Warum Führung mehr ist als Prozess- oder KontrollroutineWas in der Krise wirklich zählt
In stabilen Zeiten funktionieren Prozesse, Rollenmodelle und Kennzahlen ganz gut. Die Organisation läuft, Entscheidungen folgen definierten Wegen – vieles reguliert sich „systemisch“. Doch wenn eine Krise eintritt, egal ob von außen getrieben oder hausgemacht, zeigt sich schnell:
Worauf ein Unternehmen wirklich bauen kann, ist nicht der schönste Flowchart oder das sauberste Gantt-Diagramm – sondern Führung, Klarheit und Vertrauen.
Ich erinnere mich gut an ein Projekt aus dem Sondermaschinenbau, bei dem diese Erkenntnis mit voller Wucht einschlug.
Eine komplexe Anlage sollte an einen internationalen OEM geliefert werden – mit kundenspezifischer Software, aufwändiger Mess- und Regeltechnik und mehreren Schnittstellen zu bestehenden Systemen im Werk des Kunden. Das Projekt war technisch ambitioniert, aber organisatorisch gut aufgestellt: Dutzende Prozessbeschreibungen, dokumentierte Übergabepunkte, detaillierte Prüfpläne, klar definierte Verantwortlichkeiten.
Bis zu dem Moment, als alles gleichzeitig ins Rutschen geriet.
Die Anlage war mechanisch und elektrisch installiert, das Inbetriebnahmeteam übernahm – vermeintlich nur noch ein kleiner Schritt bis zum Projektende. Denn alles war getestet, geplant, programmiert. Doch dann kam es, wie es in solchen Projekten oft kommt: Aus den kleinen Anpassungen, die „immer noch kommen“, wurden große Herausforderungen. Und das ganze Projekt geriet ins Stocken.
Der Zeitplan lief aus dem Ruder – und mit ihm auch der des Kunden. Die notwendigen Ressourcen für Fehlersuche und Behebung schienen unendlich. Die Teams – intern wie extern – gerieten an ihre Grenzen.
Und dann trat beim Kunden auch noch eine neue Projektleiterin an – jung, engagiert, hungrig, aber mit völlig neuem Blick auf das Pflichtenheft. Sie stellte vieles infrage, was vorher als geklärt galt.
Bis vor wenigen Tagen schien alles auf gutem Kurs – nun standen wir gefühlt wieder ganz am Anfang.
Auf einmal war alles unklar: Liefertermin, Funktionsumfang, technische Details – und vor allem das Vertrauen.
Prozesse geben Halt – aber nur, solange sich Menschen sicher fühlen
Die Folge war das, was in vielen Projekten passiert, wenn Druck entsteht:
- Verunsicherung.
- Fingerpointing.
- Rückzug ins eigene Silo.
Und plötzlich funktionierte keiner der definierten Prozesse mehr – obwohl sie ja eigentlich genau für solche Situationen gemacht sein sollten.
Die Wahrheit ist: In solchen Momenten helfen keine BPMN-Diagramme. Auch keine Meetingreihen, Meilensteinlisten oder doppelt gesicherten Freigabeschleifen. Sie sind im Zweifel sogar kontraproduktiv – weil sie überlastete Projektbeteiligte zusätzlich belasten, statt zu entlasten.
Sie rauben wertvolle Zeit, die besser genutzt wäre, um das Problem direkt anzupacken: pragmatisch, erfahrungsbasiert, fokussiert.
Ich bin ein großer Fan von Tools und strukturierten Prozessen – wenn sie zur Situation passen. Aber in akuten Krisen ist schnelles Handeln gefragt, nicht das Erstellen der x-ten Top-Management-Präsentation oder das Abhaken eines Dokuments, das niemand mehr liest.
Was das Team in diesem Fall gebraucht hätte – und was ich heute frühzeitig einfordere – war kein Prozess.
Es war eine Führungskraft.
Jemand, der präsent ist.
Der zuhört.
Der Entscheidungen trifft – auch unter Unsicherheit.
Der zwischen den Zeilen liest, kulturelle Nuancen erkennt (gerade in internationalen Projekten), und Konflikte löst, nicht verschärft.
Und vor allem: Jemand, der Vertrauen aufbaut, statt Misstrauen zu verwalten.
Führung bedeutet: den Menschen sehen
Krisen treffen nicht nur Projekte. Sie treffen Menschen.
Ich habe gesehen, wie erfahrene Techniker unter Druck ihre Souveränität verlieren, wie Teamleiter die Verantwortung wegschieben – aus Angst, einen Fehler zu machen.
Und ich habe gesehen, wie einfache Gesten – ein Gespräch auf Augenhöhe, ein klares Wort, ein ernst gemeintes „Wir kriegen das zusammen hin“ – ganze Teams stabilisieren können.
In besagtem Projekt war es schließlich nicht ein Top-Management-Meeting, oder Projekt-Taskforce-Meeting im Besprechungsraum, fernab des Geschehens, das die Wende brachte. Sondern ein Nachmittag, an dem ich gemeinsam mit dem Team auf der Baustelle stand, Fragen stellte und beantwortete, Pizza bestellte – und vor allem nicht bewertet, sondern zugehört habe.
Die Techniker, die bis dahin still ihre Arbeit gemacht hatten, begannen wieder zu sprechen. Probleme wurden sichtbar – und lösbar. Der Kunde fühlte sich ernst genommen. Das Projekt kam zurück in die Spur.
Manchmal entscheidet über den Erfolg eben nicht die formale Entscheidungsvorlage – sondern die Fähigkeit, das Menschliche zu sehen.
Was ich daraus gelernt habe – und wie ich heute handle
Als (Interim) Manager komme ich oft in Situationen, in denen Prozesse zwar vorhanden sind, aber nicht greifen. Oder sogar blockieren. Und in denen Führung entweder fehlt – oder in reiner Kontrolle erstarrt ist.
Mein Ansatz ist dann nicht, Prozesse abzuschaffen – im Gegenteil:
- Ich vereinfache,
- ich kläre,
- ich strukturierte neu.
Aber ich führe – mit Blick auf die Menschen im System.
Ich stelle Fragen wie:
- Was braucht das Team, um wieder in Bewegung zu kommen?
- Wo fehlt Klarheit – nicht im Prozess, sondern im Kopf?
- Welche Formalitäten kann man weglassen, um Luft zum Atmen zu schaffen?
- Welche Entscheidung muss jemand jetzt einfach treffen – ohne sie endlos abzusichern?
Manchmal beginnt echte Führung genau dann, wenn man den Mut hat, einen perfekt ausdefinierten Prozess nicht durchzuziehen – sondern durchbricht, um Vertrauen wiederherzustellen, Energie zurückzubringen und Bewegung zu ermöglichen.
Fazit
Krise ist nicht nur ein wirtschaftlicher Ausnahmezustand – sie ist vor allem ein emotionaler Stresstest für Teams und Organisationen.
Prozesse helfen – aber nur, wenn Menschen sich sicher fühlen.
Und Führung beginnt genau da, wo Kontrolle an ihre Grenzen stößt.
Was bleibt, ist eine einfache Erkenntnis, die mich seit Jahren begleitet:
👉 In der Krise zählen nicht die besten Tools. Sondern die besten Menschen.
Und genau dort sehe ich meine Rolle: Klarheit schaffen. Verantwortung übernehmen. Und ein Projekt zurück auf Kurs bringen – nicht mit PowerPoint, sondern mit Haltung.