f&P BLOGwarum ein IDW S6 manchmal die letzte Chance ist

Wenn die Zahlen ins Stolpern geratenWarum ein IDW S6 manchmal die letzte Chance ist

Autor: Veit Velten

Vor kurzem wurde ich zu einem Pitch eingeladen. Der Auftrag klang zunächst klassisch: Ich sollte als Geschäftsführer einsteigen, Strukturen wiederherstellen und das Unternehmen mittelfristig für den Verkauf vorbereiten. Ein klar umrissener Auftrag, der ich in dieser Form regelmäßig an Interimsmanager herangetragen wird.

Doch bereits nach wenigen Minuten im Gespräch wurde klar: Dieses Unternehmen hatte weit tiefere Probleme. Es ging nicht nur um die Frage, wie ein älterer Unternehmer sein Lebenswerk geordnet an einen Nachfolger übergeben kann. Es ging um das Überleben des Betriebs selbst.

Der Unternehmer leitete seit über vierzig Jahren einen mittelständischen Betrieb mit rund fünfzig Mitarbeitern aus der erweiterten Maschinenbaubranche. Jahrzehntelang war er erfolgreich, hatte investiert, Innovationen angestoßen und sein Unternehmen zu einem verlässlichen Partner für Kunden und Banken gemacht. Doch die vergangenen Jahre hatten Spuren hinterlassen: Die Corona-Pandemie, die wirtschaftliche Abkühlung und sein altersbedingter Rückzug aus dem Tagesgeschäft führten dazu, dass Strukturen erodierten.

Die Buchhaltung war nicht mehr aktuell, die Transparenz über die Liquidität fehlte. In den Gesprächen betonte der Unternehmer immer wieder die volle Auftragslage – und tatsächlich, die Auftragsbücher waren ordentlich gefüllt – teils jedoch mit fraglichen Zahlungsplänen. Doch als ich ansprach, ob er alle Lieferantenrechnungen noch pünktlich bezahlen würde, kippte die Stimmung. Zunächst wich er aus, dann stockte er, und dieser kurze Moment des Zögerns verriet alles. Es war offensichtlich: Die Probleme waren größer, als er zugeben wollte.

Die unsichtbare Wand zwischen Unternehmer und Bank

Besonders eindrücklich war, wie sehr sich der Unternehmer von seiner Bank im Stich gelassen fühlte. Vier Jahrzehnte lang hatte er dort Kredite aufgenommen, Zinsen gezahlt, Investitionen über sie finanziert – stets zuverlässig, stets partnerschaftlich. Er war überzeugt, dass diese lange Beziehung ausreichen müsse, um nun in einer schwierigen Phase erneut Unterstützung zu erhalten.

Seine Frage hallt mir noch nach: „Warum helfen die mir jetzt nicht? Warum stellen die sich quer, wo ich doch seit über 40 Jahren ein treuer Kunde bin?“

Was er nicht wusste – und was viele Unternehmer in ähnlichen Situationen nicht wissen – ist, dass Banken heute gar nicht mehr die Wahl haben, so zu handeln, wie sie es vielleicht vor dreißig Jahren getan hätten. Die Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) schreiben vor, dass Kredite an kriselnde Unternehmen besonders kritisch geprüft werden müssen. Loyalität und Bauchgefühl spielen keine Rolle mehr. Ein Bankmitarbeiter, der „aus alter Freundschaft“ eine Kreditlinie verlängert, riskiert nicht nur den Vorwurf schlechter Arbeit, sondern im schlimmsten Fall die Anschuldigung der Beihilfe zur Insolvenzverschleppung.

Die Regulierungen sind eindeutig: Nur wenn eine positive Fortführungsprognose vorliegt und die Sanierungsfähigkeit plausibel nachgewiesen ist, darf eine Bank zusätzliche Mittel bereitstellen. Und genau dafür braucht es ein IDW S6-Gutachten.

Was ein IDW S6 leistet – und warum es so entscheidend ist

Das IDW S6 ist ein Sanierungsgutachten nach den Standards des Instituts der Wirtschaftsprüfer. Es gilt als „Goldstandard“ für Sanierungsentscheidungen, weil es alle relevanten Dimensionen berücksichtigt: die Finanzlage, das Geschäftsmodell, die Ursachen der Krise, die Markt- und Wettbewerbssituation sowie die konkreten Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, um die Krise zu überwinden.

Ein gutes IDW S6 zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht nur die Probleme beschreibt, sondern auch Wege aufzeigt, wie das Unternehmen wieder in die Spur kommen kann. Es beantwortet die zentrale Frage: Ist das Unternehmen sanierungsfähig – ja oder nein?

Für Banken ist es damit mehr als ein Papier. Es ist die Grundlage für eine verantwortungsvolle Entscheidung. Für Unternehmer ist es die Eintrittskarte, um in schwierigen Zeiten überhaupt noch Zugang zu Finanzierungen zu erhalten.

Typische Fehler in Gutachten – und warum sie fatal sind

Leider erlebe ich in der Praxis immer wieder, dass Gutachten erstellt werden, die diesen Anforderungen nicht genügen. Typische Fehler sind:

  • Unklare Ursachenanalyse: Wenn im Gutachten nur allgemein auf „die Marktlage“ oder „Corona“ verwiesen wird, fehlt die spezifische Analyse, warum genau dieses Unternehmen in Schwierigkeiten geraten ist.
  • Schönrechnerei: Viele Gutachten enthalten Prognosen, die auf Wunschdenken beruhen. Umsatzsteigerungen von 20 Prozent, ohne realistische Grundlage, sind ein rotes Tuch für Banken.
  • Fehlende Maßnahmen: Es genügt nicht, Probleme zu benennen. Ein gutes Gutachten muss konkrete, umsetzbare Schritte aufzeigen, die sowohl zeitlich als auch finanziell plausibel sind.
  • Mangelnde Unabhängigkeit: Wenn ein Gutachten von Personen erstellt wird, die weder Erfahrung noch Distanz haben, entsteht schnell der Verdacht des Gefälligkeitsgutachtens. Ein solches Papier überzeugt keine Bank.

Die Folgen sind gravierend. Banken lehnen das Gutachten ab, wertvolle Zeit geht verloren, und das Unternehmen rutscht noch tiefer in die Krise. In manchen Fällen wird sogar eine trügerische Sicherheit geschaffen: Das Gutachten attestiert Sanierungsfähigkeit, obwohl sie faktisch nicht mehr gegeben ist. Dann wird nicht nur Zeit verspielt, sondern auch Geld – und am Ende stehen Mitarbeiter, Lieferanten und der Unternehmer selbst vor den Scherben.

Wenn der Preis wichtiger scheint als die Qualität

Im konkreten Fall war der Unternehmer von meinem Angebot zunächst überzeugt. Er verstand, dass er ein professionelles Sanierungsgutachten brauchte, um seine Bank zu überzeugen. Doch am Ende entschied er sich dagegen. Mein Angebot erschien ihm zu teuer. Stattdessen beauftragte er einen Bekannten – einen „Kumpel“, wie er sagte – der noch nie ein IDW S6 erstellt hatte und auch nicht über die notwendige (oder nur einen Teil der) Fachkenntnis verfügte.

Für mich war das ein ernüchternder Moment. Denn diese Entscheidung offenbart ein Missverständnis, das in der Praxis oft zu sehen ist: Unternehmer betrachten ein IDW S6 als Kostenfaktor, den sie möglichst kleinhalten wollen. In Wahrheit ist es jedoch eine Investition. Ein schlecht gemachtes Gutachten spart vielleicht kurzfristig Geld, doch wenn es scheitert – und das Risiko ist enorm hoch –, kann es das Unternehmen endgültig in die Insolvenz treiben.

Ein professionelles Gutachten kostet Geld, ja. Aber die Alternative ist ungleich teurer: verlorene Zeit, verlorenes Vertrauen und am Ende der Verlust des gesamten Unternehmens.

Lehren für Unternehmer und Banken

Die Geschichte zeigt, wie wichtig es ist, dass Unternehmer frühzeitig handeln und die Realität akzeptieren. Wer Transparenz über seine Finanzen schafft und bereit ist, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, verschafft sich Handlungsspielräume. Wer hingegen hofft, mit Abkürzungen und günstigen Lösungen durchzukommen, riskiert alles.

Für Banken ist die Lehre ebenso klar: Es reicht nicht, nur ein Gutachten einzufordern. Die Qualität zählt. Ein formell korrektes, aber inhaltlich schwaches Papier darf nicht die Grundlage für weitreichende Finanzierungsentscheidungen sein. Banken müssen sicherstellen, dass die Gutachten, auf die sie sich stützen, Substanz haben.

Appell und Schlussgedanke

Mein Appell an Unternehmer lautet: Unterschätzen Sie nicht die Bedeutung eines professionell erstellten IDW S6. Es geht nicht darum, Kosten zu sparen, sondern darum, die Zukunft Ihres Unternehmens zu sichern. Loyalität und lange Kundenbeziehungen sind wertvoll, aber sie ersetzen heute keine regulatorischen Anforderungen mehr.

Mein Appell an Banken lautet: Vertrauen Sie nicht blind auf Gutachten, sondern prüfen Sie deren Qualität. Nur so können Sie Ihrer Verantwortung gerecht werden – gegenüber Ihrem Institut, Ihren Mitarbeitern und den Unternehmen, die auf Sie bauen.

Als Interim Manager sehe ich meine Aufgabe nicht darin, Papier zu produzieren. Mein Anspruch ist es, Unternehmen wieder handlungsfähig zu machen, Perspektiven zu eröffnen und auch die Menschen im Blick zu behalten, die hinter den Zahlen stehen. Denn am Ende geht es nicht nur um Bilanzen und Paragraphen. Es geht um Mitarbeiter, um Familien, um Lebenswerke. Genau deshalb lohnt es sich, für jedes Unternehmen zu kämpfen, das noch eine Chance auf Sanierung hat – mit Klarheit, mit Transparenz und mit der Verantwortung, die diesem Auftrag innewohnt.

Dipl.-Wirtsch.-Ing. Veit Velten

Partner

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